Eines Tages war Achmed nicht zum Dienst gekommen. Die Kollegen, auch Bewährungshelfer des städtischen Gefängnis Stadelheim mit ihrer Dienststelle am Rande von Schwabing, wunderten sich, den Achmed galt als korrekt und zuverlässig – eine hervorragende Persönlichkeit – die Strafgefangenen verehrten ihn. Man wurde unruhig im Amt und rief bei ihm an.
Achmed war sehr erstaunt dass man ihn erwartete - er wusste nicht, dass ihr heute Dienst haben sollte. Er fragte nach dem Wochentag – überhaupt alles in ihm schien verworren. Die Freunde waren sicher, dass Ahmet nicht krank oder abhängig von irgendwelchen Stimulanzien war. Man musste schleunigst nach ihm sehen.
So begann Achmed unseliges Schicksal. Hier helfen keine Rettung und Suchaktionen – bei diesem Mann hat es sich das ICH in ein Schilf der Alzheimer Krankheit entfernt. Der engste Verbündete, dieses ICH - Achmeds Geist -, maß schmerzlich den schon erreichten Abstand.
Aus einer Wüstengegend stammend war Ahmet oft mit dem Onkel, dem Großvater, einem Tabakhändler, bei Nacht in die Wüste geeilt. Ein dunkelblauer Ritt in das Sandmeer – so erzählte er. Sie lagerten auf prächtigen Teppichen, und es funkelte über Ihnen ein anderes Meer – der „Sternenschaum“ wie Ahmet erzählte. Ahmet hatte in dieser Zeit, als ich mit ihm zu tun hatte, noch die Fähigkeit feine Wortwesen aufsteigen zu lassen. Wenn er erzählte stiegen wirklich Wortwesen in den Raum – mit einer Bewegung seine schönen Finger schnippte er sie hinauf, als gäbe er ihnen mit diesen Bewegungen seine Hände einen Start in die Unwiderbringlichkeit. Die Worte wurden entlassen, sie kehrte nicht wieder, sie wurden Raumfahrer – aber sie sind es, die in dunklen Zeiten leuchten, uns erhellen.
Das zerstörerische seiner Krankheit hatte in den Anfangsstadien noch Poesie und Zärtlichkeit. Die Verzweiflung wandelte sich bei ihm dann schnell um in ein unglaubliches Zugeneigtsein an Menschen und Geschehnisse. Einmal sagte er: „Und weil ich krank bin, darf ich heilen – die Krankheit ist meine Schwester – die Heilung meine Frau.“ Seine wunderschönen Augen, wirklich Augen aus dem Samt von Tausendundeiner Nacht mit diesen gekritzelten, langen Wimpern sahen dann seinen Zustand, seine Not und gaben sich selbst Linderung. Ich wurde, wenn ich bei ihm war, nach kurzer Zeit sehr müde – und sagte ihm dann, dass ich mich für 20 Minuten hinlegen müsse, mir sei so seltsam. Er lächelte dann rätselhaft, hob seinen Finger an den Mund und sagte fast unhörbar: „Weil ich dich heile“ – er ließ mich in das Nebenzimmer gehen wo, ich einem seltsamen Zustand da lag und etwas in mir vorging, wofür ich bis heute keine Benennung finde. Alles erschien mir in dieser Zeit so still und voller Ruhe, dass ich dann als er meistens nach genau 20 Minuten erschien wieder regelrecht gestärkt war. Mit feinem abwartenden Lächeln trat er vorsichtig an die Tür – wir lächelten uns an, und alles war gut.
Es gab aber Tage und Augenblicke, wo sein ganzes Wesen wie in einen Starkkrampf erfiel, besonders beim Ankleiden. Ahmet verabscheute neuerdings alles Enge um seinen Leib – jemand hatte ihm Hosenträger besorgt, weil er sehr abgemagert war und die Hosen nicht nur rutschten sondern mitunter herunterfielen. Legt die man in dieses „Geschirr“ an, so konnte es geschehen, dass er einem diese Dinger aus der Hand schlug und sehr böse wurde. Alles verfinsterte sich dann an ihm, und es war dann kaum noch etwas mit ihm anzufangen. Er ließ dann den Unterkörper unbekleidet und lief nackt von einem Zimmer in das andere, um einem zu entkommen. Mit nachtigallartigen Betörungen gelang es mir endlich, ihn für einen Spaziergang fertig zu haben. Er vergaß seine Wut und Hilflosigkeit und war im Handumdrehen wieder so charmant und herzensfreundlich wie zuvor.
Ich fuhr an einem sehr hellen, köstlichen Sommertag im Bus mit ihm in den Englischen Garten. Als wir beide Hand in Hand über eine große Wiese aus dem Schatten traten, hob er plötzlich die Arme und sagt es sehr einfach und klar: „Ja – das Leben ist schön, auch ohne Zusammenhang.“ Meine Erschütterung über diese Aussage spüre ich noch heute, denn er bezeichnete damit selbst seine Erkrankung – er war ihr auf der Spur - und er erkannte damals ihre Rätselhaftigkeit – die Kraft seines Geistes blitzte auf – eine übermenschliche Kraft, zu bestehen.
Es geschahen aber auch wieder entsetzliche Dinge: einmal fuhren wir in einem städtischen Bus. Aus irgendeinem Grund saß seine Hose zu locker (er hatte die Träger abgelehnt), und als wir aussteigen wollten, viel diese herunter. Blitzschnell musste ich reagieren und sie wieder hinaufbringen; die Umstehenden – erschrocken – halfen, wir kamen nicht an der Haltestelle hinaus – aber irgendeine zauberische Kraft hatte geholfen, den Ahmet tat so, als hätte er diesen Unfall nicht bemerkt.
Er geriet danach in einen merkwürdigen Zustand von Gleichgültigkeit und Passivität. Er erholte sich auf einem Kinderspielplatz, wo er wie verzückt den Stimmen und dem Jauchzen der Kinder lauschte – er horchte mit einer Blicklosigkeit, die er wohl haben musste, um alle Wahrnehmung und Kraft diesen Stimmen zu leihen, die für ihn alle Zuversicht und Hoffnung verkörperten, denn er sagte immer wieder und wieder: „Hör nur, es sind unsere Lichter - unsere Lichter“. Er war in diesem Augenblick kein Ergriffener im Sinne von Gefühl, aber von Wissen.
Als wir an diesem Tag von unseren Streifzügen nach Hause kamen, hatte ich eine Idee gefasst – oder vielmehr die Idee hatte mich erfasst: ich führte Ahmet vor einen seiner Kleiderschränke. Wir öffneten diesen bisher verschlossenen Schrank wie eine verbotene Tür im Märchen – und was gab es da!? Ahmet schwankte vor Freude. Ja, da hingen sehr schöne lange biblische Gewänder. Gewänder, die „getragen“ wurden – nicht solche, die man anzog. Ahmet schien lange nicht in den Schrank geschaut zu haben. „Ahmet“, sagte ich „welchen von den Kaftanen hast du am liebsten? Den such dir und zieh ihn ab jetzt an - es wird dir gut tun du bist dann wieder der Wüstensohn.“ Ahmet fühlte jeden an – eine starke Zärtlichkeit war es, mit der er danach griff. In einem Moment der Unentschlossenheit hielt er inne, streichelte einen – ich nahm ihn heraus –, er sah ihn lange an, als sei er viel, viel mehr.
„Ziehen wir ihn an“, sagte ich.
„Ja, aber du nicht, nur ich“, das sagte er weil ich „wir“ gesagt hatte; er lächelte amüsiert.
Er wurde auf einmal sehr behende im Ablegen seine zivilisierten Garderobe – sehr schnell war alles am Boden, was ja so anständig macht.
„Ha!“, rief ich, und schon stand er aus seiner Herkunft grüßend da – es war ein Moment, der nicht nur aus Überredung bestand, es war ein rückführender, gesunder und feierlicher Moment. Psychologisch ausgedrückt ein Identitätsmoment – aber gerade diese Bezeichnung geht nicht auf, weil sie auf der Strecke bleibt. Achmed Krankheit war die Entdeckung seines Volkes, sie war gebunden an ein großes tragisches Gemeinschaftsschicksal - dass der irakisch-arabischen Welt. Achmed Erkrankung war im Grund unpersönlich. Zwar hatte er sich als junger Mensch gegen eine reaktionäre Gewalt in seiner Heimat gestellt – nicht aber gegen den Quell seiner Herkunft, die die Wiege einer der größten und frühsten Kulturen war. Die Flucht – das Exil in den Westen – hatte sein ICH nicht bewältigen können, weil dies ein Vollzug ist, der nicht nur ein Überwechseln in ein anderes Land, eine andere Kultur ist, sondern der in Wahrheit einer Inkarnation gleichkommt – so etwas ist eigentlich in einem Leben nicht zu schaffen. Nicht Flucht, nicht Emigration sind es, was einem da abverlangt wird sondern Inkarnation – der Übertritt von dem Osten in den Westen, diese Pseudo-Inkarnation schaffte Achmed ICH nicht – weil wohl auch die westlichen Werte die Werte des Ostens verrieten, ja diese nicht anerkennen; wie das Ereignis des 11. Septembers 2001 beweist.
Die westliche Welt sollte den Osten nicht wie eine Himmelsrichtung betrachten, sondern in großer Anerkennung grüßen und sich mit ihm verbinden – nicht bevormunden. Ahmet Imran stand in diesem ausgleichenden Prozess zu isoliert – auf seinem ICH lastete wie im Alleingang das eines ganzen Volkes. So verließ dieses ICH die Zonen der menschlichen und völkischen Trennung und des Abverlangens – es „verzog“ sich aus dem Menschen Ahmet, bevor dieser starb. Und Ahmet brauchte sehr lange - ich hörte, dass er noch etliche Jahre hierbleiben musste, bis er seinem ICH folgte.